Biographie

Einleitung
Kindheit und Jugend in Braunschweig (1886 bis 1905)
Studium in Berlin und München (1905 bis 1910)
Erste berufliche Schritte und Rückkehr nach BS (1910 bis 1934)
Als Lehrer an der Staatsmusikschule (1934 bis 1945)
Als Lehrkraft an der Staatsmusikschule Braunschweig (1945 bis 1956)
Lebensabend in Bad Harzburg (1956 bis 1975)
Nachleben und Erinnerungen (nach 1975)
„Der letzte Ritter der Romantik“

Einleitung

Wer an Braunschweig und Musik und Braunschweiger Komponisten denkt, dem fallen andere Namen ein, Rudolf Hartung löst in der Regel nur ein Kopfschütteln aus. Nur ein Teil der Lieder und Kammermusikwerke liegen gedruckt vor, eine Schallplatte mit Violin- und Viola-Sonaten und eine CD mit Streichquartetten sind bzw. waren im Handel erhältlich.

Dabei ist die Werkliste Rudolf Hartungs außerordentlich vielfältig: zwei Symphonien, Opern, Singspiele, Orchester- und Kammermusikwerke, Klavierstücke und Lieder. Zudem war er ein erfahrener Dirigent, begabter Musikpädagoge, versierter Korrepetitor – und begeisterter Kontrabassist. Zu Unrecht vergessen?

„Mein musikalisches Credo ist: Am Anfang war und wird die Musik sein. Sie in das zeitgemäße Gewand eines reichhaltigen Rhythmus und einer belebten Harmonie zu kleiden, ist insofern kein Problem, als mit ihr, dem Ursprünglichen, alles andere von selbst kommen wird, weder gewollt noch gesucht, sondern gemusst.“ So zitiert der Musikkritiker Gotthard Schmidtke Rudolf Hartung.

Hartung komponierte im Stil der Romantik, die atonalen Werke seiner Zeitgenossen wie Arnold Schönberg (1874 bis 1951), Alban Berg (1885 bis 1935), Anton von Webern (1883 bis 1945), Igor Strawinsky (1882 bis 1971) oder Béla Bartók (1881 bis 1945), die Anfang des 20. Jahrhunderts die Musikwelt in Aufregung versetzten, waren für ihn nicht maßgebend.

Dass Hartung nie der große Durchbruch gelang, liegt wohl auch an seiner zurückhaltenden Persönlichkeit. „Er ist einer der Stillen im Lande, der nicht viel Aufhebens von sich macht und dessen Kompositionen dennoch immer wieder zur Auseinandersetzung zwangen. Der Kreis seiner musikalischen Erfindungen ist weit, sein unbedingter Formwille von nacheifernswerter Energie und seine blühenden Kantilenen sind Ausdruck eines echten Musikerherzens.“

Versuchen wir, uns dem Musiker und Menschen Rudolf Hartung, seinem Werk und seiner Persönlichkeit zu nähern. Da nur sehr wenige persönliche Dokumente und Selbstzeugnisse erhalten sind, sind wir dabei auf Berichte von Zeitgenossen und Beschreibungen seiner Werke angewiesen – wie passend zu seinem eigenen Credo: „Das Ursprüngliche ist die Melodie, alles andere ergibt sich daraus.“

1. Ein musikalischer Lausebengel. Kindheit und Jugend in Braunschweig (1886 bis 1905)

Rudolf Hartung wurde in eine Braunschweiger Bürgerfamilie hineingeboren, sein Vater, der Justizrat Ernst Hartung, war Rechtsanwalt und Notar und Vorsitzender des Braunschweiger Anwaltsvereins. Seine Kanzlei führte er im Wohnhaus der Familie Am Fallersleber Tore 12.

Im Jahre 1884 hatte Ernst Hartung die am 29. September 1863 geborene Auguste Mathilde Clara Satzinger geheiratet. Ihre Familie war aus dem Salzburger Land als protestantische Emigranten ins Herzogtum Braunschweig gekommen. Mathildes Vater ließ sich als Stellmachermeister in Kissenbrück nieder.

Rudolf Hartungs Eltern Ernst und Mathilde Hartung
Rudolfs Eltern Ernst und Mathilde Hartung (Privatbesitz. Aus: Wolfgang Hartung: Aus meiner Zeit. Bochum 1999 [Eigenverlag], S. 13)

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Rudolf Wilhelm Albert kam am 28. September 1886 in Braunschweig zur Welt, er war das zweite von vier Kindern der Familie Hartung. Die älteste Schwester Käthe, geboren 1885, schlug wie ihr Bruder auch eine Laufbahn als Musikerin ein. Sie erhielt eine Ausbildung als Konzertpianistin am Stern’schen Konservatorium in Berlin und gab in Berlin-Charlottenburg Klavierunterricht. Hartung äußerste später, dass sie zwar begabt gewesen sei, „aber leider zu wenig geübt“ hätte. Sie sei zu bequem, zu sehr „höhere Tochter“ gewesen. Sie blieb unverheiratet und kümmerte sich um ihre alternden Eltern. Nach deren Tod und der Zerstörung ihres Elternhauses bei einem Bombenangriff im Zweiten Weltkrieg zog sie nach Bad Harzburg. Sie starb 1976 mit 90 Jahren in Braunschweig.

Die beiden jüngeren Geschwister Hartung hingegen setzten die Juristentradition der Familie fort. Die Schwester Marianne Gertrud Johanna, geboren 1893, heiratet den Juristen Hugo Weitz. Die Familie wohnte zunächst in Helmstedt, zog aber später wieder nach Braunschweig zurück. Marianne starb am 16. Dezember 1981.

Der jüngste Bruder Georg Paul Günther Manfred, geboren am 29. Juni 1896, war ebenfalls Jurist, Amtsgerichtsrat und Direktor des Amtsgerichts in Liebenburg. Georg war wie alle Hartung-Geschwister musikalisch begabt und spielte Geige. Sehr gerne musizierte er im Streichquartett und am Liebenburger Gericht hieß es, man könne dort am schnellsten Oberinspektor und Obersekretär werden, wenn man Cello oder Bratsche spielte. Als Pensionär spielte er im Orchester der Braunschweigischen Musikgesellschaft. Er wurde über 90 Jahre alt und starb am 16. September 1986.

Rudolf Hartung mit seinen Geschwistern
Rudolf Hartung mit seinen Geschwistern: Georgs Frau Margret, [eine unbekannte Frau], Käthe, Georg, Rudolf, Marianne und Elisabeth Hartung (v.l.n.r.) (Stadtarchiv Braunschweig, G IX 102: 174, Akz. 2017/61).
Rudolf Hartung besuchte zunächst die Bürgerschule, an Michaelis 1896 wurde er dann am humanistischen „Herzoglichen Neuen Gymnasium“ aufgenommen, heute das Wilhelm-Gymnasium. Sein Vater Ernst Hartung hatte das Traditionsgymnasium ebenfalls besucht, ebenso seine Brüder und auch Rudolfs Sohn Fritz sollte später hier die Schulbank drücken. Er sei ein netter, natürlicher Lausebengel gewesen, dennoch ein guter Schüler, der keinerlei Probleme bereitete.

Auch wenn die Tradition der Juristenfamilie im Vordergrund stand, spielte die Musik eine wichtige Rolle im Hartung’schen Familienleben. Ernst Hartung war musikalisch sehr interessiert und spielte selbst ein wenig Klavier. Alle vier Kinder spielten ein Instrument, so dass im Hause Hartung viel musiziert wurde, außerdem hatten die Eltern Konzertabonnement und gingen häufig ins Theater. Ein Onkel, einer der Brüder seiner Mutter, unterrichtete Rudolf bis zu seinem Abitur im Klavierspiel. Dieser war als Volksschullehrer vermutlich kein überragender Pianist – aber der Junge sollte nach dem Willen der Eltern schließlich auch Jurist werden. Der Klavierlehrer erkannte jedoch die musikalische Begabung seines Schülers und förderte ihn, so gut er vermochte. Der Musikunterricht am Gymnasium inspirierte Rudolf auch zu ersten Kompositionen, ab 1904 komponierte er erste kleinere Stücke. Auch ging er oft in das nahegelegene Hoftheater, um sich Opern anzuhören.

Das Braunschweigische Hoftheater um 1900
Das Braunschweigische Hoftheater um 1900 (Stadtarchiv Braunschweig, H XVI: C I 1c)

Die kulturelle Situation dieser Zeit um die Jahrhundertwende war geprägt durch einen wirtschaftlichen Aufschwung und ein aufstrebendes, selbstbewusstes Bürgertum, das sich an den humanistischen Idealen der Dichter, Künstler und Philosophen des 18. und 19. Jahrhunderts zu orientieren versuchte und sich für deren Werke begeisterte. Doch der Spross einer wohlhabenden und angesehenen Bürgerfamilie hatte Jura, Wirtschaft, Medizin, Technik oder Naturwissenschaften zu studieren, konnte Studienrat, Staatsbeamter oder auch Architekt werden, aber nicht Musiker, Dichter oder Maler. Solche gesellschaftlichen Konventionen und elterlichen Wünsche bestanden natürlich auch im Haus des Justizrates Ernst Hartung und der vor dem Schulabschluss stehenden Rudolf wird mit seinem musikalischen Enthusiasmus so manches Mal mit dem Vater aneinandergeraten sein.

1905 bestand Rudolf das Abitur am Wilhelm-Gymnasium. Seine umfassende humanistische Bildung und hervorragende Allgemeinbildung wurden von Zeitgenossen häufig erwähnt und hervorgehoben. Seine Schulakte vermerkt, er sei abgegangen, „um Rechtswissenschaften u. Musik zu studieren.“ Mit dem Berufswunsch „Rechtswissenschaften“ kam er wahrscheinlich einem Wunsch seines Vaters nach. Die Alternative „Musik“ entsprach wohl eher seinen eigenen Neigungen.

2. Zwischen Justitia und den Musen. Studium in Berlin und München (1905 bis 1910)

Mit dem Schulabschluss in der Tasche ging Rudolf Hartung 1905 zunächst nach München, um den Traditionen der Braunschweiger Juristenfamilie folgend Jura zu studieren. Damit kam er besonders dem Wunsch des Vaters nach, dass der Sohn in seine beruflichen Fußstapfen treten solle. Doch bereits nach einem Semester gab Hartung seiner eigenen Neigung nach und wechselte zur Münchner Akademie der Tonkunst. Seine Leidenschaft hatte über Traditionen und Konventionen gesiegt, die Musen sich gegen Justitia durchgesetzt – und der Sohn sich gegen den Wunsch der Eltern, die zwar große Musikliebhaber waren, den Musikerberuf für ihren Sohn jedoch nicht befürworteten. Hartung schrieb sich für das Hauptfach Kontrabass ein.

Im Oktober 1906 zog Hartung nach Berlin, um sein Studium an der dortigen Akademischen Hochschule für Musik fortzusetzen. Hier ließ er sich von Paul Juon und Max Bruch im Komponieren ausbilden, bei Hermann Kretzschmar hörte er Musikwissenschaften. Besonders der Unterricht bei Max Friedlaender, dem Musikwissenschaftler, Liedforscher, Schubert-Kenner und Sänger prägte ihn. Tief beeindruckt erzählte er später seiner zweiten Frau Elisabeth davon.

In Berlin wandte Hartung sich vor allem der Kammermusik zu und komponierte erste kleinere Stücke für Klavier. Neben seinem Hauptfach studierte er Musikgeschichte, Klavier und Elementargesang.

Im September 1909 verließ Hartung die Berliner Hochschule und absolvierte ein kurzes Zwischenstudium an der Musikakademie für Musik in Leipzig. Bei Hugo Riemann hörte er Musiktheorie, bei Karl Pembaur erhielt er Klavierunterricht.

Der junge Rudolf Hartung
Der junge Rudolf Hartung (Stadtarchiv Braunschweig, G IX 102: 175, Akz. 2017/61).

Wieder zurück in München studierte Hartung ab Herbst 1909 bei Anton Beer-Walbrunn Kompositionslehre. Der Lehrstoff umfasste laut seinem Jahreszeugnis vom 14. Juli 1910 schwerpunkmäßig „Instrumentation sowie Thema mit Variationen“. Als obligatorisches Lehrfach hatte Hartung bei seinem zweiten Studienaufenthalt an der Isar das Fach Klavier bei Dr. Mayer-Gschrey belegt, hier u.a. mit dem Schwerpunkt auf der Beethoven-Sonate in As-Dur und den Cramer Etüden. Zudem besuchte er die Oberklasse Chorgesang bei Professor Josef Becht und lernte bei Felix Mottl Dirigieren.

Am 4. Februar 1910 wurde im Rahmen des VI. Übungs-Abends der Akademie im kleinen Odeonssaal Hartungs Sonate in d-moll für Violine und Klavier –Grave ed Allegro appassionato, Andante cantabile ed espressivo, Allegro assai aufgeführt. Beim Fünften Konzert der Akademie am 25. Juni 1910 im großen Odeonssaal dirigierte Hartung selbst seinen Symphonischen Trauermarsch in e-moll für Orchester.

Die Abschlussprüfung fand an den Vormittagen des 20. und 21. Juni unter dem Vorsitz des Königlichen Ministerialrates Dr. Theodor Winterstein als Ministerialkommissär und „unter Mitwirkung der Direktoren und der zuständigen Professoren und Fachlehrer statt.“ Rudolf Hartung bestand sein Examen mit Auszeichnung. Damit erfüllte er schließlich doch die Erwartungen seiner Familie, die – einmal mit dem Berufswunsch des Sohnes abgefunden – große Hoffnungen in Hartungs musikalische Karriere setzten.

3. „Ein kühner Stürmer und Dränger“. Erste berufliche Schritte und die Rückkehr nach Braunschweig (1910 bis 1934)

Die erste Stelle nach dem Abschluss des Studiums trat Rudolf Hartung 1910 am Konservatorium Krüß-Färber in Hamburg-Altona an. Dort unterrichtete er Komposition, Theorie und Klavier. Neben seiner Lehrertätigkeit leitete er mehrere Chöre.

Nicht nur in Hamburg, auch in Braunschweig, wohin Hartung häufig als Pianist zu Konzerten fuhr, standen seine Werke immer wieder auf den Programmzetteln. So bei einem Kammermusikabend am 3. Mai 1911. Die Sonate d-moll für Violine und Klavier war bereits bei einem Übungsabend in München zu hören gewesen. Ihr folgten drei Lieder für Sopran und Klavier und vier Einzelstücke für Klavier solo. Als Finale erklang dann zum ersten Mal das Streichquartett in B-Dur. Solche Heimspiele dürften für Rudolf Hartung in dieser frühen Phase seiner Karriere sehr wichtig gewesen sein, konnte er doch so seine kompositorische Entwicklung nicht nur vor Verwandten, Freunden und Bekannten präsentieren, sondern sich einem größeren Publikum, Gönnern wie Skeptikern, als ernst zu nehmender Künstler präsentieren.

Auch privat stellte Rudolf Hartung die Weichen für die Zukunft. Bereits in Berlin hatte er Margarethe, genannt Grete, Giesel kennengelernt. Sie war die Tochter des Braunschweiger Physikers Friedrich Oskar Giesel, einen bekannten Forscher und Wissenschaftler der Braunschweiger Chininfabrik Buchler & Co. Die älteste Tochter Giesels und seiner Frau Martha, Margarethe Auguste, wurde am 11. Februar 1885 geboren.

Grete heiratete zunächst den Chemiker Walter Weimann. Das Paar bekam zwei Kinder, Heinz (geboren am 24. Januar 1907) und Ilse (geboren am 7. August 1908). Die Familie lebte in Berlin-Schönhausen und später in Hamburg. Doch schon am 18. September 1909 starb Weihmann an einem Blinddarmdurchbruch und Grete zog mit den beiden Kindern nach Braunschweig zu ihren Eltern in die Obergstraße zurück. Hartung hatte Grete bereits während seines Studiums in Berlin kennengelernt, er widmete ihr seine Impromptu und Melodie für Klavier: „Meiner Grete zum Geschenk am Abend vor meinem Abzug nach Leipzig. Rudolf, Sonntag, 15. Oktober 1911. Auf Wiedersehen!“ Nach dem Tod Weihmanns intensivierte sich die Beziehung zwischen Hartung und der Witwe, bis sie schließlich heirateten.

Rudolf und Grete am Flügel
Rudolf und Grete am Flügel (Stadtarchiv Braunschweig, G IX 102: 175, Akz. 2017/61).
Grete mit den beiden Kindern Heinz und Ilse
Grete mit den beiden Kindern Heinz und Ilse (Stadtarchiv Braunschweig, Privatbesitz Dietlind Thalacker, Hamburg).

Die Rollen in der Familie Hartung waren scheinbar klar verteilt. Grete hatte ein Auge darauf, dass ihr Mann ordentlich gekleidet war und auf Umgangsformen achtete. Über Flecken auf Hemd oder Krawatte sah er großzügig hinweg – anders seine Frau. Der Familienvater Hartung habe sich im Verbund seiner Patchwork-Familie durchaus wohlgefühlt. Auch wenn nicht alle seine künstlerischen Neigungen und Interessen teilten, habe er jedem begeistert seine neuen Ideen und Themen vorgetragen und gesungen.

Mit Beginn des Ersten Weltkrieges 1914 wurde Hartung als Gefreiter zum Kriegsdienst einberufen. Doch wegen eines Magengeschwürs kam er nach einem kurzen Einsatz im Baltikum krank zurück und wurde zum Dienst „in die Schreibstube“ versetzt. 1916 wurde er schließlich gänzlich vom Kriegsdienst befreit.

Einen großen beruflichen Schritt machte Rudolf Hartung 1916, als er am Hoftheater einen Vertrag als Korrepetitor für Solomusiker und Ballettrepetitor, später Chordirektor und Kapellmeister mit kleineren Dirigierverpflichtungen bekam. Das erste eigene Werk, das Hartung in seiner Stellung als Kapellmeister mit dem Orchester des Hoftheaters zur Uraufführung brachte, war die Tanzsinfonie. Er hatte sie zu seiner Einführung im Theater komponiert, sie wurde dort am 19. Juni 1917 aufgeführt. Der Komponist stand selbst am Dirigentenpult, der junge Regisseur Benno Nöldechen inszenierte dazu eine Bühnenaufführung mit Tänzen nach Szenenbildern von Arnold Böcklin. Die Aufführung fand ein positives Echo bei den Kritikern. Das Herzogspaar saß ebenfalls im Publikum, nach der Vorstellung baten Ernst August und Viktoria Luise den Regisseur Nöldechen und Hartung in ihre Loge und sprachen beiden ihre Anerkennung aus. Ein gelungener Einstand Hartungs in die Arbeit am Hoftheater.

Chorprobe am Landestheater 1933/34
Chorprobe am Landestheater 1933/34 (Stadtarchiv Braunschweig, G IX 102: 173, Akz. 2017/61)

Am 18. Oktober 1920 brachte Grete Hartung den gemeinsamen Sohn Fritz zur Welt. Seine körperliche Behinderung, er hatte an jeder Hand zwei Daumen und sein Fuß war verwachsen, war wohl eine Folge der jahrelangen Beschäftigung Gretes mit den radioaktiven Materialien ihres Vaters.

Grete und Rudolf mit ihrem Sohn Fritz
Grete und Rudolf mit ihrem Sohn Fritz (Stadtarchiv Braunschweig, G IX 102: 175, Akz. 2017/61)

Bisher hatte Hartung vor allem Kammermusikstücke und einige Werke für Orchester geschrieben, mit der Komposition einer Oper betrat Hartung neuen musikalischen Boden. Am 25. Dezember 1921 führte das Landestheater Hartungs komische Oper Johannisfest zum ersten Mal auf. Das Libretto von Richard Bock wurde von den Kritikern scharf kritisiert. „Dem Deutschen geht der Sinn nach leichter Grazie ab“, meinte Karl Blotz, er habe keine Veranlagung für Witz, für schelmische Anmut und Leichtfüßigkeit. Zusammenfassend urteilt der Autor: „Der Komponist war sichtlich bemüht, eigene Wege zu gehen; in der Sorge, den Vorwurf der Anlehnung zu vermeiden, hat er seiner unzweifelhaft starken Erfindungsgabe jedoch Fesseln angelegt, die ihn einstweilen noch hinderten, seinen eigenen Stil zu finden. […] Rudolf Hartung ist ein starkes Buch zu wünschen, an dem er sein ganzes Können erweisen kann. […] Alles in allem: ein vielversprechender Versuch, aber noch keine Erfüllung.“

Neben seiner Tätigkeit am Theater übernahm Hartung 1923 die Leitung des Privat-Streichorchesters, ein Laienorchester, das Bernhard Seidmann, seit 1917 Kapellmeister am Hoftheater, initiiert hatte. Mit der Gründung eines Orchesters mit musikalischen Laien lag er ganz im Trend der Zeit. „Fast in jeder Stadt, wo es nur irgend möglich ist, hat sich ein Dilettanten-Orchester gebildet“, schrieb er 1922 in einem Zeitungsartikel. Ziel sei wie bei den Profis auch die Veranstaltung von Konzerten. Seidmann verließ Braunschweig 1922 und übergab den Dirigentenstab an Hartung. Der erste öffentliche Auftritt unter der Leitung von Hartung war ein Serenaden-Abend am 14. März 1923. Insgesamt fand die Zusammenarbeit zwischen dem Orchester und dem Dirigenten ein positives Echo. Die Arbeit mit musikalischen Laien, mit Hobby-Musikern, war ein weiterer roter Faden, der sich durch Hartungs Leben zog. Immer wieder leitete er nicht nur Laien-Orchester und Chöre, nach seiner Pensionierung setzte er sich auch selbst ans Notenpult und spielte mit.

Das Ensemble des Hoftheaters mit Rudolf Hartung bei einer Aufführung
Das Ensemble des Hoftheaters mit Rudolf Hartung bei einer Aufführung (Stadtarchiv Braunschweig, G IX 102: 100, Akz. 2008/97)

Am 14. November 1927 erlag der „kleine Professor Giesel“, wie die Kinder Hartung ihn aufgrund seiner geringen Körpergröße von 1,57 Metern nannten, einem Krebsleiden infolge seiner Arbeit mit Radium. Nach seinem Tod bezog Hartung mit seiner Familie das Giesel’sche Anwesen in der Obergstraße 2.

Doch trotz der festen Anstellung am Theater konnte Hartung von dem Gehalt nur schwer seine vierköpfige Familie ernähren, beide Väter haben sie in der Anfangszeit finanziell unterstützt. Finanzielle Erwägungen waren vermutlich auch ein Grund – neben seiner Leidenschaft für die Lehrtätigkeit – dass Hartung nebenbei am Konservatorium Wegmann am Hagenmarkt unterrichtete.

Rudolf Hartung dirigiert sein Weihnachtsmärchen
Rudolf Hartung dirigiert sein Weihnachtsmärchen, im Hintergrund gebannte Kinder (Stadtarchiv Braunschweig, Braunschweiger Neueste Nachrichten vom 4. Dezember 1928)

Sicherlich auch für den Menschen Rudolf Hartung persönlich ein wichtiges Ereignis war die Uraufführung seiner ersten Sinfonie am 17. Februar 1930. Vorausblickend auf das Ereignis beschrieb er sein Werk und seine Arbeitsweise selbst in der Zeitung. „Mein musikalisches Credo ist: Im Anfang war und wird sein die Melodie (siehe die heutige Verdi-Renaissance!). Sie in das zeitgemäße Gewand eines reichhaltigen Rhythmus und einer belebten Harmonie zu kleiden, ist insofern kein Problem, als mit ihr, dem Ursprünglichen, alles andere von selbst kommen wird, weder gewollt noch gesucht, sondern gemußt.“ Die Uraufführung der Sinfonie war das große Ereignis des Abends, die Zeitung fand nur lobende Worte. „Der Erfolg [war] stürmisch und wohlverdient. Der Komponist wurde durch zwei Lorbeerkränze und viele Sträuße, durch jubelnden Beifall und wiederholte Hervorrufe von dem vollbesetzten Hause ausgezeichnet. Freudig erregte Gruppen konnten such draußen schwer trennen, denn die Aufführung war für Braunschweig ein außergewöhnliches künstlerisches Ereignis, für viele Hörer ein Erlebnis.“

In den 1930er Jahren bekam die Politik eine immer größere Rolle im Leben Hartung, obwohl er sich eigentlich nicht dafür interessierte. Seit 1920 war er Mitglied der nationalliberalen Deutschen Volkspartei – evtl. in der Tradition seiner konservativen Bürgersfamilie. Doch er scheint sich nicht weiter politisch engagiert zu haben und so trat er 1931 aus. Ebenfalls Familientradition war Hartungs Mitgliedschaft in der Freimaurerloge „Friedrich zur Einheit“. Als er 1919 eintrat, war sein Vater dort bereits ein angesehener Logenbruder. 1920 wurde Hartung zum Gesellen befördert, 1922 zum Meister erhoben. Er übernahm – wenig verwunderlich – das Amt des Musikleiters. Aus politischen Gründen verließ er im März 1933 die Loge und stellte einen Antrag auf Mitgliedschaft in der NSDAP. Diesen lehnten die Nationalsozialisten jedoch ab mit dem Verweis auf seine frühere Mitgliedschaft in der Freimaurerloge. Auch aus der SA, in der Hartung seit Mai 1932 Mitglied war, wurde er wegen seiner Logen-Vergangenheit im September 1935 wieder ausgeschlossen.

Hartung war ein unpolitischer Mensch, auch seine Haltung zum Nationalsozialismus war unreflektiert und naiv. Trotz seiner Bemühungen, Mitglied der NSDAP zu werden, ist nicht anzunehmen, dass Hartung ein überzeugter Nationalsozialist gewesen ist. Vielmehr sei er ein gutgläubiger Mensch gewesen, der leicht zu beeinflussen gewesen sei, wankelmütig und ohne moralische Standfestigkeit, schätzte Fritz Hartung seinen Vater ein. Hartung war kein erklärter Anhänger der nationalsozialistischen Bewegung, beteiligte sich aber auch nicht am Widerstand – ein Opportunist und Mitläufer, der sich berufliche Vorteile durch die Nähe zum Nationalsozialismus erhoffte. Die Musik stand für Hartung über allem, komponieren zu können war für ihn das wichtigste. Dafür nahm er auch Aufträge der Nationalsozialisten an. Er wollte gute Musik zur Erbauung in den schweren Zeiten schreiben.

1934 schließlich kündigte Rudolf Hartung seine Stellung am Staatstheater. Es war eine zeit- und kraftintensive Tätigkeit und er sah am Theater, wo er eher in hinterer Reihe stand, keine Möglichkeit, sich musikalisch und kompositorisch weiterzuentwickeln. Er fühlte sich vorwiegend als Komponist, erst in zweiter Linie als Dirigent und Korrepetitor. Das Komponieren vieler Schauspielmusiken fiel Hartung, der seine Stärken in der Instrumental- und Kammermusik hatte, sehr schwer, worauf auch die Kritiken der Bühnenwerke hinweisen. Nun wollte er sich mit voller Kraft seiner Lehrtätigkeit und dem Komponieren widmen. Die 1935 gegründete Staatsmusikschule bot ihm zudem die Möglichkeit, in leitender Position interessantere Aufgaben zu erfüllen und Anerkennung und Verwirklichung zu erfahren.

4. „Ein Stiller im lauten Getriebe des Musiklebens“. Als Lehrer an der Staatsmusikschule (1934 bis 1945)

Nach dem Abschied vom Hoftheater arbeitete Rudolf Hartung zunächst als freischaffender Komponist. Damit rückte das Musizieren mit Laien, das Hartung über weite Strecken seines Lebens begleitete, wieder verstärkt in den Fokus. Nachdem er nach seinem Studium bereits in Hamburg mehrere Laienchöre geleitet hatte, übernahm er zum 1. Januar 1937 den Dirigentenstab des Katholischen Männergesangvereins Braunschweig.

Auch in der Folgezeit gab es immer wieder Aufführungen von Hartungs Werken, so am 26. April 1938 im Parkhotel. Bei dem kammermusikalischen Abend saß die Schwester des Komponisten Käthe am Klavier, sie begleitete Hans Serfling, Oskar Lefers und Hans Geis bei der Sonate für Cello und Klavier, der Sonate für Violine und Klavier und dem Trio für Violine, Viola und Cello und einige Lieder.

In seinem Arbeitszimmer in der Obergstraße
In seinem Arbeitszimmer in der Obergstraße, mit Zigarre am Flügel (Stadtarchiv Braunschweig, G IX 102: 174, Akz. 2017/61)

In der zweiten Hälfte der 1930er Jahre veröffentlichte Hartung mehrere Werke, die bei Veranstaltungen der NSDAP oder ihr nahestehenden Organisationen aufgeführt wurden. Obwohl er kein überzeugter Anhänger Adolf Hitlers war, bekam er doch regelmäßig Kompositionsaufträge – seine Musik schien zu gefallen.

Für die „Braunschweiger Festspiele“, die seit 1937 am Ende der Theatersaison in der von den Nationalsozialisten neu eingerichteten Weihestätte am Nussberg stattfanden, verfasst Hartung 1938 das Spiel Die Nibelungen. Vor der Kulisse einer „germanischen“ Burg „in klassischem Ebenmaß und stolzer Schönheit und Würde, festgefügt aus schweren Quadersteinen“ spielte die klassische Sage, die Friedrich Hebbel bearbeitet hatte. Hartung selbst dirigierte das Musikkorps des Infanterie-Regiments 17.

Seit 1933 fand auf dem Hainberg jedes Jahr im November die Hubertusfeier der Braunschweigischen Jäger statt. 1934 erklärte Göring den Ort zur „traditionellen Stätte der deutschen Hubertusfeier“. Den Rahmen bildete eine Naturbühne, die durch den Berghang unterhalb des Jägerhauses und einen gegenüberliegenden Wald gebildet wurde. 1937 und 1938 führte das Staatstheater ein Festspiel auf, zu dem Hartung die Musik komponierte. 1937 konnte Generalforstmeister Friedrich Alpers auch Reichsjägermeister Hermann Göring begrüßen, ein Jahr später standen zwar Ministerpräsident Klagges, SS-Obergruppenführer Jeckeln, der Intendant des Landestheaters Dr. Schum, Oberbürgermeister Dr. Hesse und Stadtrat Schneider auf der Gästeliste, Göring jedoch blieb der Feier fern. Hartung hatte seine Musik – passend für den jagdlichen Anlass – für Bläser instrumentiert.

Am 1. Oktober 1939 trat Hartung schließlich eine Stelle als Lehrer an der neu gegründeten Braunschweigischen Staatsmusikschule an. Sie war aus der Fusion des Konservatoriums Wegmann mit dem konkurrierenden Konservatorium Max Plock, dem sogenannten Plock’schen Konservatorium, entstanden. Im Gegensatz zur ein Jahr vorher gegründeten Städtischen Musikschule diente die Staatsmusikschule ausschließlich der Ausbildung von jungen Berufsmusikern. Die Studenten erhielten Unterricht in den Fächern Orchester, Oper, Schauspiel und Bühnentanz, es gab ein Seminar für Musik- und für Rhythmiklehrer und für Organisten und Chorleiter. Hartung unterrichtete Korrepetition, zwischendurch vertrat er die Lehrkräfte für Harmonielehre und Kontrapunkt. Außerdem war er wie am Konservatorium Wegmann Leiter der Orchester- und Opernklasse, dafür erteilte er Gruppen- und Einzelunterricht in Musiktheorie.

Rudolf Hartung mit einer Schülerin am Flügel
Rudolf Hartung mit einer Schülerin am Flügel (Stadtarchiv Braunschweig, G IX 102: 100, Akz. 2008/97)

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Rudolf Hartung, umringt von Schülerinnen der Staatsmusikschule
Rudolf Hartung, umringt von Schülerinnen der Staatsmusikschule (Stadtarchiv Braunschweig, G IX 102: 100, Akz. 2008/97)

In den Schülerlisten der Staatsmusikschule Braunschweig finden sich einige später bekannte Musiker, darunter war Hans Werner Henze wohl der prominenteste Schüler Hartungs. Er studierte von 1942 bis 1944 in Braunschweig, zunächst die instrumentalen Hauptfächer Klavier und Schlagzeug. Von zentraler Bedeutung waren für ihn jedoch die Nebenfächer Harmonielehre und Komposition, in denen er von Hartung unterrichtet wurde. Der Student Henze erlebte seinen Lehrer Hartung als einen stets „lustigen, freundlichen und hochzivilisierten“ Menschen. Er wirkte als Paukist im Schulorchester, das Hartung leitete, „ein lustiger, temperamentvoller, nicht mehr junger Braunschweiger, der recht gutartig zu allen Menschen war“, schreibt Henze in seiner Biografie. Auch der später als Komponist, Dozent, Musikregent, Lektor und Autor bekannt gewordene Diether de la Motte erhielt ein Jahr lang Unterricht bei Rudolf Hartung.

Im Zweiten Weltkrieg wurde Hartung aufgrund seiner gesundheitlichen Schwierigkeiten nicht zum Fronteinsatz eingezogen. Als Musiker wurde er jedoch bei verschiedenen Veranstaltungen zur moralischen Unterstützung der Braunschweiger Bevölkerung eingesetzt. So dirigierte er das Werksorchester der Niedersächsischen Motorenwerke und der Büssingwerke bei einer Aufführung der Operette „Wenn die Rosen wieder blühen“.

Beim VII. Sinfoniekonzert der Staatstheaterkapelle am 18. Mai 1942 im Rahmen der „Woche zeitgenössischer Dichter und Komponisten“ stand neben Werken von Luigi Dallapiccola, Erich Anders und Johannes Brahms die Uraufführung der Sinfonietta von Rudolf Hartung auf dem Programm, der Komponist dirigierte selbst. „Der Komponist führte sein Werk selbst zu einem sehr schönen und herzlichen Erfolge, an dem auch die Staatskapelle spürbare Freude hatte.“

Viele Aufführungen seiner Werke dirigierte der Komponist selbst
Viele Aufführungen seiner Werke dirigierte der Komponist selbst (Stadtarchiv Braunschweig, G IX 102: 173, Akz. 2017/61)

Infolge der Kriegseinwirkungen war an der Staatsmusikschule ein geregelter Unterricht nicht mehr möglich, so fanden seit 1943 Arbeitswochen in Schliestedt statt. Ein Teil des Unterrichts fand auch in der Hartung’schen Villa an der Obergstraße statt.

Nach dem Tod von Prof. Giesel war die Familie Hartung in die Giesel’sche Villa in der Obergstraße zu Gretes Mutter, der „Giesel-Oma“ gezogen. Sie wohnte im ersten Stock der Villa, Grete pflegte sie bis zu ihrem Tod. Die Witwe des Professors regte sich gelegentlich darüber auf, dass Hartung ein so zerstreuter Skatspieler war, ansonsten hatte er ein gutes Verhältnis zu ihr. Nur seine zwischenzeitliche Mitgliedschaft in der SA tolerierte sie nicht. „Wenn ich Rudolf in der braunen (SA-) Uniform sehe, wird mir ganz schlecht“, schrieb sie in einem Brief. Neben seinen pädagogischen Aufgaben war Hartung auch kompositorisch sehr aktiv. Er verbrachte viel Zeit am Klavier, schrieb, sang und summte mit kratzig-rauher Stimme die Melodien mit.

Im August 1944 musste der Unterrichtsbetrieb der Staatsmusikschule komplett eingestellt werden. Hartung wurde als Hilfsarbeiter bei der Firma Franke & Heidecke verpflichtet, daneben gab er weiterhin Musikunterricht. Im Januar 1945 beorderte die Kreisleitung Braunschweig der NSDAP die Mitglieder des künstlerischen Solopersonals und das Orchester des Staatstheaters von ihren ihnen zugewiesenen Arbeitsplätzen in den Rüstungsbetrieben zurückzukehren und schloss sie zu einer Heimarbeitsgemeinschaft im Staatstheater zusammen. So sollten sie von der schweren körperlichen Arbeit entlastet und zur kulturellen Betreuung der Wehrmacht und Zivilbevölkerung eingesetzt werden. Auch Rudolf Hartung wurde von seiner Arbeit im Rüstungsbetrieb freigestellt, um als Korrepetitor und Klavierbegleiter bei der Vorbereitung und Durchführung der musikalischen Veranstaltungen mitzuwirken.

Ab November 1945 bis zur Wiedereröffnung der Staatsmusikschule war Hartung als Kapellmeister an der Schauspielbühne unter Leitung des Oberspielleiters Günter Rumpel-Delmonte – auch Rumpel-Bühne genannt – tätig.

5. „Von unermüdlichem Pflichtbewusstsein“. Als Lehrkraft an der Staatsmusikschule Braunschweig (1945 bis 1956)

Wie für so viele Menschen brachte das Kriegsende auch für Rudolf Hartung und seine Familie große Veränderungen, privat wie beruflich. Das Elternhaus der Hartung-Geschwister am Fallersleber Tor war bei Bombenangriffen komplett zerstört worden. Doch Ernst und Marianne Hartung waren bereits 1942 bzw. 1943 gestorben, so dass zum Zeitpunkt des Bombentreffers nur noch Käthe dort wohnte.

Da auch die Räume der Staatsmusikschule stark zerstört worden waren, war die Schule nach Schliestedt am Elm (bei Schöppenstedt im Landkreis Wolfenbüttel) ausgelagert worden. 1945 übernahm Hartung kommissarisch die Leitung der Schule. Zudem wurde er als Leiter der Orchesterklasse vereidigt. Die Britische Militärregierung bestätigte im Juli 1946 die Ernennung und erteilte Hartung damit auch die Unterrichtserlaubnis. Vom Entnazifizierungsausschuss wurde Hartung 1949 als entlastet eingestuft, als Begründung zählte, dass er wegen der Zugehörigkeit zur Loge kein Mitglied der NSDAP und der SA war. Außerdem glaubte man ihm, dass er seine Tätigkeit als Blockwalter unter politischem Druck ausgeübt habe. „H[artung] war demnach nur dem Namen nach und ohne Einfluß vorübergehend Mitglieder einer Gliederung der Partei, ausserdem Mitglied einer ihrer Organisationen. Er hat den Nationalsozialismus, abgesehen von den pflichtmäßigen Beiträgen, nicht unterstützt.“

Aufgrund der räumlichen Enge war Hartung gezwungen, seine Schüler zuhause in der Obergstraße zu unterrichten. Auch Bücher und Noten aus der Staatsmusikschule lagerten dort und er stellte den Schülern Material aus seiner Privatbibliothek zur Verfügung. Auch Hartungs Kompositionen entstanden in dem Wohnzimmer. Täglich machte er Fingerübungen im Flügel, nach ein paar Akkorden griff er zum Bleistift, um seine Einfälle zu notieren. Er probierte aus, verwarf, änderte, strich durch, summte die Melodien mit – immer mit einer Zigarre im Mund.

Nach dem Tod des bisherigen Geschäftsführers Ernst Brandt bekam Hartung zum 1. April 1947 neben der künstlerischen auch die geschäftsführende Leitung der Staatsmusikschule übertragen. Doch war er letztlich aufgrund seiner harmoniebedürftigen, wenig autoritären Persönlichkeitsstruktur als Direktor langfristig wenig geeignet. Schon nach kurzer Zeit machte sich dieses Autoritätsdefizit innerhalb der Staatsmusikschule bemerkbar und nach nur drei Monaten bat Hartung bereits um Entlassung. Er wolle wieder als Kapellmeister an der Schauspielbühne Braunschweig arbeiten.

Doch es war nur ein kurzer Ausflug zurück auf die Bühne, bereits im Juni 1948 trat er wieder voll in den Lehrbetrieb der Staatsmusikschule ein. Es ist wahrscheinlich, dass er von seinen Pflichten als Geschäftsführer entbunden werden wollte. Umso lieber widmete er sich dann mit Feuereifer seiner künstlerischen und pädagogischen Tätigkeit an der Staatsmusikschule.

Mit Erreichen des 65. Lebensjahres schied Hartung offiziell aus dem Angestelltenverhältnis bei der Musikschule aus. Er erhielt jedoch die Erlaubnis, weiterhin mit zehn Wochenstunden zu unterrichten, bis er ein Jahr später endgültig verabschiedet wurde. Direktor Kühl schrieb: „Diese Gelegenheit möchte ich wahrnehmen, um Ihnen für Ihre langjährige Tätigkeit an der Schule zu danken, Gemeinsam mit allen Lehrkräften bin ich mir dessen bewußt, daß Sie durch Ihre Bemühungen einen hervorragenden Anteil an der Wiedereröffnung der Staatsmusikschule haben und so die Voraussetzungen schaffen halfen, die unsere seitherige gemeinsame Arbeit erst ermöglichte.“

Rudolf Hartung half beim Orchester der Staatsmusikschule aus
Rudolf Hartung half beim Orchester der Staatsmusikschule aus (Stadtarchiv Braunschweig, G IX 102: 100, Akz. 2008/97)

Für Hartung blieb seine Leidenschaft für den Kontrabass und das Musizieren mit Laien. 1948 hatten elf Bürger die Braunschweigische Musikgesellschaft gegründet. In der ersten Satzung schrieben sie die Pflege der Kammermusik, zeitgenössischer Musik und alter, selten gespielter Musik auf Originalinstrumenten, die Förderung junger Künstler und der Laienmusik als ihre Ziele fest. Mit der Gründung des Orchesters der Musikgesellschaft am 28. Oktober 1949 entstand in Braunschweig wieder ein „Liebhaberorchester“, „Selbstverwirklichung, Identifikation, Persönlichkeitsbildung und -bewahrung im Massenzeitalter“ waren die Ziele. Trotz zahlreicher Veränderungen in der Zusammensetzung präsentierte das Orchester sich am 21. April 1950 mit einem ersten Konzert dem Publikum.

Rudolf Hartung am Kontrabass
Rudolf Hartung am Kontrabass (Stadtarchiv Braunschweig, G IX 102: 173, Akz. 2017/61)

Immer wieder standen auch Werke von Hartung auf den Konzertprogrammen der Musikgesellschaft. Wer da unter ihnen saß und so pflichtbewusst den Bass spielte, wussten viele der Musiker nicht. „Bescheiden, zurückhaltend, freundlich, hilfsbereit, unauffällig. Ich wußte jahrelang nichts über seine Person, schon garnichts über seine musikalische Ausbildung und über seinen Beruf. Er hat sich problemlos im Orchester eingeordnet, ich wusste nicht, dass er Berufsmusiker war.“

Das Orchester der Braunschweigischen Musikgesellschaft bei seiner England-Reise 1954
Das Orchester der Braunschweigischen Musikgesellschaft bei seiner England-Reise 1954 (Stadtarchiv Braunschweig, G IX 102: 100, Akz. 2008/97)

6. Der alte Mann und der Bass. Lebensabend in Bad Harzburg (1956 bis 1975)

Nach seiner Pensionierung blieb Rudolf Hartung als freischaffender Komponist, Musiker und Lehrer in engem Kontakt zur musikalischen Praxis. Er war Musiker durch und durch, auch im Ruhestand machte er mit Hingabe Musik. In dem Haus an der Obergstraße unterrichtete er weiterhin Schüler im Klavierspielen und Komponieren, darunter auch Dieter von Zdunowski, der später Orchester in Oldenburg, Gelsenkirchen, Saarbrücken und Kaiserslautern dirigierte. „Es war in meiner Erinnerung eine herrliche, familiäre Atmosphäre, gewürzt durch Anekdoten und Erlebnissen aus seiner Laufbahn; wir haben uns stets großartig verstanden.“

Ein schwerer Schicksalsschlag für Hartung war der tragische Tod seiner Frau Grete, die bei einer Urlaubsreise im Sommer 1955 an der Nordsee an einer Herzmuskelentzündung verstarb. Der Tod seiner Frau, mit der er 40 Jahre verheiratet gewesen war, warf Hartung aus der Bahn. Sie war der Mittelpunkt seines privaten Lebens gewesen – trotz der Flirts, die er mit seinen Schülerinnen und jungen Kolleginnen vom Theater hatte.

Nach einem Schlaganfall wollte Rudolf Hartung nicht in Braunschweig bleiben. Er zog zu seinem Sohn Fritz nach Benefeld (Gemeinde Bomlitz), wo dieser in der Chemiefabrik Wolff Walsrode arbeitete. Doch bald kam es zu Spannungen in der Wohngemeinschaft.

An seiner Enkelin Dietlind, geboren am 11. September 1951, als die junge Familie Hartung noch mit Rudolf und Grete in der Obergstraße wohnte, hing Hartung sehr, er komponierte auch einige Stücke für sie.

Silvesterabend in Benefeld
Silvesterabend in Benefeld (Stadtarchiv Braunschweig, Privatbesitz Dietlind Thalacker, Hamburg)

Im September 1956 erreichte Hartung eine Karte aus der Staatsmusikschule mit guten Wünschen zu seinem 70sten Geburtstag. Am 24. Oktober antwortete er, es habe eine Weile gedauert, „bis ich auf alle Glückwünsche zum Eintritt ins biblische Alter geantwortet habe.“ Bezogen auf seinen erneuten Schlaganfall schrieb er: „Sonst geht es mir schon einigermaßen. Kann schon wieder ganz gut laufen.“ Die familiären Schwierigkeiten und Spannungen hingegen verschwieg er. „Es gefällt mir hier sehr gut. Sehr liebe Betreuung bei den Meinen.“ Mit ein wenig Galgenhumor schloss er: „Diesmal bin ich noch einmal davongekommen.“ Schließlich kehrte Hartung nach Braunschweig zurück und mietete sich ein kleines Zimmer

Im Frühjahr 1958, als Hartung sich von den gesundheitlichen Problemen etwas erholt hatte, besuchte er seine noch während des Krieges nach Bad Harzburg evakuierte ältere Schwester Käthe. Vor einem Geschäft in der Stadt sprach ihn eine Frau an, die in ihm „den alten Herrn Hartung“, ihren Aushilfslehrer für Harmonielehre an der Staatsmusikschule in Braunschweig, erkannte. Auch er erkannte sie wieder. „Ach ja, ich erinnere mich. Sie weinten damals, weil sie mit dem Klavierstudium aufhören mussten.“ Elisabeth Kahmann, zu dem Zeitpunkt 42 Jahre alt, war ehemalige Klavierstudentin der Staatsmusikschule.

Die junge Elisabeth Kahmann
Die junge Elisabeth Kahmann (Stadtarchiv Braunschweig, G IX 102: 174, Akz. 2017/61)

Ihre Jugend hatte Elisabeth auf Veranlassung ihrer besorgten Eltern in einem Schweizer Internat verbracht. Elisabeths Vater war nach seinem Ruhestand 1930 aufgrund gesundheitlicher Probleme mit der Familie nach Bad Harzburg gezogen. Als der Vater starb, pflegte Elisabeth ihre Mutter, als diese immer wieder schwere Schlaganfälle erlitt. 1946 schließlich begann sie ein Studium an der Staatsmusikschule, wo sie auch Rudolf Hartung kennenlernte. Als jedoch die Pflege ihrer kranken Mutter immer mehr Zeit beanspruchte, musste Elisabeth ihr Studium abbrechen. Nach langem schwerem Leiden starb die Mutter schließlich 1952 und Elisabeth nahm ihr Musikstudium wieder auf.

Nach dem zufälligen Treffen in Bad Harzburg lud Hartung Elisabeth zum Spazierengehen ein, sie liefen gemeinsam zur Sennhütte und zum Burgberg. Es blieb nicht bei einem Spaziergang, die gemeinsame Leidenschaft für die Musik legte den Grundstein für die Freundschaft. Hartung machte Elisabeth schließlich einen Heiratsantrag – sie lehnte ab, nicht zuletzt aufgrund des großen Altersunterschiedes. Ende Mai 1958 zog Hartung von seinem möblierten Zimmer in Braunschweig in die Golfstraße nach Bad Harzburg und vier Wochen später, am 28. Juni, heiratete er schließlich doch die um 30 Jahre jüngere Elisabeth Kahmann.

Nach seiner Pensionierung entdeckte Rudolf Hartung seine Leidenschaft für den Kontrabass neu. Er hatte das Instrument bereits als Student im Nebenfach gespielt, es später jedoch aufgegeben. „Ich muss unbedingt wieder Bass spielen, ich muss mir dringend einen Bass kaufen“, sagte er später. Der erfahrene Dirigent, versierte Komponist und geachtete Lehrer begann mit 68 Jahren im Orchester der Braunschweigischen Musikgesellschaft als Kontrabassist zu spielen. Bis zu seinem 81 Lebensjahr, sofern es seine Gesundheit und die Zugverbindungen zuließen, musizierte Hartung mit Hingabe unter der Leitung von Willi Wöhler, der bei ihm an der Staatsmusikschule studiert hatte. Hartung war in diesem Orchester einer der ältesten und für die anderen Musiker und Zuschauer habe es recht „ulkig“ ausgesehen, wenn „der kleine Rudolf mit dem großen Bass“ auftauchte – er war ja nur 1,70 m groß. Auch nach dem Umzug nach Bad Harzburg konnte die beschwerliche Fahrt mit der Bahn, den Kontrabass schleppend, nach Braunschweig – und abends nach der Probe zurück – ihn nicht davon abbringen.

Der alte Mann und der Bass
„Der alte Mann und der Bass“ (Stadtarchiv Braunschweig, G IX 102: 173, Akz. 2017/61)

Ihre Ehe mit dem deutlich älteren Mann erlebte Elisabeth Hartung als äußerst glücklich. Sie lebten zurückgezogen in Harzburg – sein Leben war seine Musik. Er hatte kaum gesellschaftliche Kontakte, Bekannte aus der früheren Zeit waren nicht mehr so aktiv wie er und auch Elisabeth hatte durch die lange Krankheit der Mutter kaum Freunde.

Elisabeth und Rudolf Hartung reisten viel gemeinsam
Elisabeth und Rudolf Hartung reisten viel gemeinsam (Stadtarchiv Braunschweig, G IX 102: 174, Akz. 2017/61)
Rudolf Hartung mit seinem Sohn Fritz und seiner Enkelin Dietlind
Rudolf Hartung mit seinem Sohn Fritz und seiner Enkelin Dietlind (Stadtarchiv Braunschweig, G IX 102: 174, Akz. 2017/61)

Entspannung boten dem Ehepaar Hartung lange Spaziergänge, Wanderungen und Reisen. Geburtstage wurden stets auf Sonntage verlegt, ebenso Einladungen zu Verwandten oder Freunden. Statt einer Feier wünschte Elisabeth sich stets eine schöne Wanderung bei gutem Wetter mit ihrem Mann.

Nach seinem 80. Geburtstag, im Februar 1967, hatte der Komponist noch die Freude, die Uraufführung des Werkes mitzuerleben. Willi Wöhler dirigierte das Orchester der Braunschweigischen Musikgesellschaft – in dem Hartung selbst am Bass stand. „Diese klangsatten Skizzen mit einem beschließenden urwüchsigen Ländler sind für Hartung charakteristisch und verraten Hartungs oft gerühmte Könnerschaft im Instrumentieren“, schrieb die Braunschweiger Zeitung in seiner Kritik über das Werk.

Die Arthrose plagte Hartung, er nahm starke Schmerzmittel. Geistig jedoch blieb er klar, das baldige Sterben war ihm sehr bewusst und tröstete seine Frau: „Ich bin seelisch ganz eng mit dir verbunden, ich bin ganz in dir.“ In der Nacht vom 22. auf den 23. Januar 1975 starb Hartung im Krankenhaus in Bad Harzburg.

7. „Es muss doch weitergehen“. Nachleben und Erinnerungen (nach 1975)

Nach dem Tod ihres Mannes sah es Elisabeth Hartung als ihre Aufgabe an, seine Werke bekannter zu machen. Ein erster großer Schritt bei dieser Aufgabe war die Einspielung einer Schallplatte mit der Violin- und der Viola-Sonate 1977 durch das Duo Ernst und Lory Wallfisch. Die finanzielle Investition, die Elisabeth Hartung dabei tätigte, hatte sich – musikalisch zumindest – gelohnt. „Eine Bereicherung für jeden musikalischen Menschen, besonders für Liebhaber auf dem Gebiet der anspruchsvollen Kammermusik, dürfte der Erwerb dieser durch das Duo Wallfisch brillant intonierten Sonaten sein“, wie es in einer Besprechung formuliert wurde.

Das Cover der Schallplatte mit Lory und Ernst Wallfisch
Das Cover der Schallplatte mit Lory und Ernst Wallfisch, aufgenommen von den Telefunken (Stadtarchiv Braunschweig, G IX 102: 156, Akz. 2008/97)

Für den Vertrieb der Schallplatte rührte Elisabeth ebenfalls kräftig in den Werbetöpfen. Sie bedachte eine Reihe von Musikkritikern und Journalisten mit der Aufnahme. Gotthard Schmidtke, der viele Jahre Musikkritiken in der Braunschweiger Zeitung verfasst hatte und das Werk Hartung daher gut kannte, antwortete ihr: „Jetzt, da ich die dreisätzige Komposition [Sonate für Bratsche] ungestört verfolgte, eröffneten sich mir nicht nur erneut die aparten melodischen Schönheiten und die satztechnische Könnerschaft. Zugleich wurde mir bewußt, daß bei aller tiefen Verwurzelung mit der Tradition Rudolf Hartung hier in seiner zwingenden Aussage und Erfindung ein ganz Eigener war.“

Mit dem Braunschweigischen Landesmuseum und seinem Leiter Werner Flechsig fand Elisabeth einen Partner für die Bewahrung des Nachlasses ihres Mannes. Im Mai 1981 erfolgte die Übergabe der Dokumente. „Ein Tonsetzer abseits der Tagesmoden“, titelte die Braunschweiger Zeitung über das Ereignis. Aus dem Anlass der Übergabe veranstaltete das Landesmuseum ein Konzert im Refektorium des Aegidienklosters. In seiner Ansprache würdigte Werner Flechsig den Komponisten: „In seiner Tonsprache gehörte Rudolf Hartung der Spätromantik an. Er war kein ,Neutöner‘, doch fand er durch seine kontrapunktischen Neigungen und seinen Einfallsreichtum einen durchaus persönlichen Stil, der ihm bei den Musikkritikern wie beim Publikum viel Beifall und Anerkennung eintrug.“ Die Veranstaltung wurde musikalisch mit Werken des Komponisten gestaltet.

1984 überließ Elisabeth Hartung dem Landesmuseum und seinem neuen Direktor Dr. Rolf Hagen weitere Abschriften und Autographen zur Aufbewahrung in der musikgeschichtlichen Abteilung, außerdem spendete sie 20 Mark für die Arbeit der musikgeschichtlichen Abteilung und zur Erhaltung der Werke Hartungs.

Um die Streichquartette von Rudolf Hartung machte sich das „Voces Quartett“ aus Rumänien verdient. Die Brüder Bujor (1. Violine) und Dan Prelipceanu (Violoncello), Anton Diaconu (2. Violine) und Constantin Stanciu (Viola) spielten für eine Aufnahme der Electrorecord 1995 das Streichquartett in G, das Streichtrio und den Quartettsatz „Andante maestoso und Choral“ ein. „Der Ernst des Ansatzes, der stets auf solides Handwerk und innige Empfindung baut, verdient Aufmerksamkeit“, urteilt Reinhard Schulz in der Neuen Musikzeitung zurückhaltend.

Elisabeth Hartung gab schließlich auch den Anstoß für die Durchführung eines Streichwettbewerbes, den Günther Westenberger, damals Leiter der Musischen Akademie in Braunschweig, organisierte. Vom 6. bis 8. Oktober 2 trafen sich Streichquartette aus Mannheim, Köln, Weimar, Rumänien und Polen in Braunschweig. In der Jury saßen Professor Ida Bieler (Düsseldorf), Professor Thomas Zwieauer (Wien), Professor Krystof Wegrzyn (Hannover), Generalmusikdirektor des Staatstheaters Jonas Alber und der Musikkritiker der Braunschweiger Zeitung Roland Comes. Für den Sieger waren 10 Mark, 6 Mark für den Zweiten und 4 für den Dritten ausgelobt. Die Teilnehmer hatten für die erste Runde des Wettbewerbs einen Satz aus dem 4. Streichquartett Rudolf Hartungs vorbereitet, die Preisverleihung fand im Rahmen eines Abschlusskonzertes statt. Am Ende kürte die Jury das Rubin-Quartett aus Köln mit Irmgard Zavelberg, Tinta S. von Altenstadt, Silvie Altenburger und Ulrike Zavelberg zum Sieger. Aufgrund des großen Aufwands blieb es bei der einmaligen Durchführung des Wettbewerbs.

Das Rubin-Quartett gewinnt den ersten Preis des Quartett-Wettbewerbs
Das Rubin-Quartett gewinnt den ersten Preis des Quartett-Wettbewerbs (Stadtarchiv Braunschweig, G IX 102: 192, Akz. 2018/136)

Um das Andenken an Rudolf Hartung dauerhaft zu bewahren und seine Musik bekannter zu machen, gründete Elisabeth Hartung schließlich 1998 die Rudolf Hartung-Stiftung. Nach ihrem Tod am 13. Juli 2002 übernahm Dietlind Thalacker, die Enkelin Hartungs, die Organisation. Seit 2016 verwaltet die Bürgerstiftung Braunschweig das Vermögen der Hartung-Stiftung und betreut die Projekte. Die Satzung wurde erweitert durch den Zweck, die musikalische Bildung und Erziehung von Kindern und Jugendlichen zu fördern.

8. „Der letzte Ritter der Romantik“. Zum Schluss

Die zeitgenössischen Kritiker beurteilten die Werke von Rudolf Hartung äußerst positiv. Besonders bei der Komposition von instrumentalen Werken und Liedern hatte er Talent. „Hartung weiß für Orchester zu schreiben. Hier ,klingt‘ alles vorzüglich. Die kontrastierenden Instrumentalgruppen sind meisterhaft behandelt. Die Harmonik hört sich niemals gezwungen, gewollt apart an – sie strömt wie die melodische Erfindung aus einem gesunden Born.“ Mit den modernen Formen seiner Zeitgenossen konnte er nichts anfangen, er war aus tiefster Überzeugung und im besten Sinne des Wortes Romantiker. Hartung selbst legte quasi ein musikalisches Glaubensbekenntnis ab: „Mein musikalisches Credo ist: Am Anfang war und wird die Melodie sein. Sie in das zeitgenössische Gewand eines reichhaltigen Rhythmus und einer belebten Harmonie zu kleiden ist insofern kein Problem, als mit ihr, dem Ursprünglichen, alles andere von selbst kommen wird, weder gewollt noch gesucht, sondern gemußt.“

Doch er besaß nicht nur die handwerklichen Fähigkeiten und kompositorischen Kenntnisse, er verstand, durch seine Musik zu berühren. Dass Hartung aber trotz aller Meisterhaftigkeit und guten Kritiken nicht auf den großen Durchbruch hoffen konnte, wusste er wohl selbst. Er gehöre „zweifellos zu den Stillen im Lande, deren Wirken für den Fortbestand der Tonkunst im Gefälle der Jahrhunderte notwendig ist.“ Er war zurückhaltend und bescheiden, so klingt es immer wieder an in den Kritiken und Urteilen, und besaß keinerlei Geschäftssinn zur Vermarktung von seiner Person und seinem Opus. Ihm war es wichtig, Musik zu schreiben und mit ihr zu berühren. Dafür nahm er auch in Kauf, Aufträge der Nationalsozialisten anzunehmen. Politik, der Alltag, finanzielle Dinge – das interessierte ihn nicht besonders.

So urteilte ein Kritiker zusammenfasend: „Wenn vieles aus dieser Schaffensfreude bislang weiteren Kreisen verborgen blieb, so beruht diese Tatsache nicht nur auf der bemerkenswerten Bescheidenheit des bis zu seinem Tode musikalisch-vitalen Könners, sondern nicht weniger auf den zeitgegebenen Umständen, die in den vergangenen Jahrzehnten vieles hinderten, was wertvoll und denkwürdig ist.“